Haben Sie schon einmal vom Gerstmann-Straussler-Scheinker-Syndrom gehört? Von Glutarazidurie Typ 1? Oder vom Bisphosphoglycerat-Mutase-Mangel? Vermutlich eher nicht, denn diese Krankheiten gehören zur Gruppe der Seltenen Erkrankungen und es sind jeweils nur sehr wenige Menschen davon betroffen. Da jedoch inzwischen rund 8.000 Seltene Erkrankungen bekannt sind, summiert sich auch die Zahl der Betroffenen. In Österreich leiden Schätzungen zufolge rund eine halbe Million Menschen an einer Seltenen Erkrankung, innerhalb der Europäischen Union (EU) sind es rund 30 Millionen Menschen. Der Tag der Seltenen Erkrankungen (28. Februar) wurde initiiert, um auf diese oft wenig beachteten, jedoch häufig schweren Erkrankungen und die damit verbundenen Leiden und Schwierigkeiten für die Betroffenen aufmerksam zu machen.
Was ist eine Seltene Erkrankung?
Eine Erkrankung gilt in der EU als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. In der Regel sind Seltene Erkrankungen komplexe, schwerwiegende und chronisch verlaufende Krankheiten, die oft schon im Kindesalter auftreten. Einen Großteil machen Immundefekte, neurologische Defekte und endokrinologische Defekte aus. Rund drei Viertel der Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Aufgrund der Schwere vieler dieser Erkrankungen sind die Lebensqualität und/oder die Lebenserwartung häufig eingeschränkt. Auch dauerhafte Invalidität ist keine Seltenheit.
Die Diagnose einer Seltenen Erkrankung dauert oft sehr lange, da sie wenig bekannt ist und viele Ärzte/Ärztinnen kaum Erfahrung damit haben. Die Symptome sind oftmals unspezifisch und ähneln denen anderer, häufiger vorkommender Krankheiten, was zu Fehldiagnosen führt. Zudem gibt es nur wenige auf diese Erkrankungen spezialisierte Fachärzte/Fachärztinnen und Diagnosetests sind oft teuer oder schwer zugänglich. Viele Seltene Erkrankungen haben genetische oder komplexe Ursachen, die spezielle Untersuchungen erfordern, die erst nach vielen anderen Tests und Untersuchungen durchgeführt werden. Hinzu kommt der Mangel an Forschung und verlässlichen Daten, wodurch die Entwicklung schneller Diagnoseverfahren erschwert wird. All diese Faktoren führen dazu, dass Betroffene oft eine lange Odyssee durch das Gesundheitssystem durchlaufen und oft Jahre vergehen, bevor sie eine korrekte Diagnose erhalten.
Gibt es endlich eine zuverlässige Diagnose, stehen Betroffene häufig vor dem nächsten Problem, denn für rund 95 Prozent der bekannten Seltenen Erkrankungen gibt es noch keine zugelassene Fertigarzneimittel. Das liegt primär daran, dass die Entwicklung neuer Wirkstoffe und Medikamente forschungsintensiv und teuer ist, es jedoch aufgrund der Seltenheit der einzelnen Krankheiten nur wenige Betroffene und somit keinen attraktiven Markt für Pharmahersteller gibt. Durch gezielte Anreize wie Steuererleichterungen, Forschungsunterstützungen und eine mehrjährige Marktexklusivität hat die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung Seltener Erkrankungen, sogenannte „Orphan Drugs“, in den vergangenen Jahren aber deutlich an Fahrt aufgenommen und auch die Qualität der Medikamente hat sich vor allem durch Fortschritte in Feldern wie Molekularbiologie und Gentechnik erheblich verbessert. Einzelne komplexe Seltene Erkrankungen können inzwischen sogar geheilt werden.
Medikamente gegen Seltene Erkrankungen: „Orphan Drugs“
„Orphan Drugs“ sind Medikamente, die zur Behandlung Seltener Erkrankungen entwickelt wurden, die weniger als 5 von 10.000 Menschen betreffen. Da die Marktnachfrage gering ist und die Entwicklungskosten hoch sind, sind sie für Pharmaunternehmen wirtschaftlich oft unattraktiv. Um die Forschung und Produktion dennoch zu fördern, gibt es in vielen Ländern spezielle Anreize wie Steuervergünstigungen, vereinfachte Zulassungsverfahren, längere Marktexklusivität und finanzielle Unterstützung. „Orphan Drugs“ spielen eine entscheidende Rolle, da sie oft die einzige oder erste wirksame Therapie für Betroffene darstellen, die sonst kaum Behandlungsmöglichkeiten hätten.
Apotheker:innen an der Seite der Betroffenen
Bei der medikamentösen Behandlung von Patient:innen mit Seltenen Erkrankungen kommt den Apotheker:innen eine wichtige Rolle zu. Sie erhöhen die Therapietreue und damit auch die Wirksamkeit der Therapie, indem sie Betroffene zur richtigen Anwendung von „Orphan Drugs“ beraten, über Neben- und Wechselwirkungen aufklären und als Ansprechpartner:innen vor Ort für pharmazeutische Fragen jederzeit zur Verfügung stehen. Denn viele dieser Patient:innen haben aufwendige Therapiepläne, bei denen sie alleine schnell den Überblick verlieren würden. Zudem weisen viele „Orphan Drugs“ spezielle Nebenwirkungsprofile auf, die einer besonderen pharmazeutischen Überwachung des Therapieverlaufes bedürfen und mitunter auch Dosierungsanpassungen nötig machen können. Eine große Verantwortung kommt Apotheker:innen auch bei der Beschaffung von „Orphan Drugs“ für die Patient:innen zu, denn viele dieser Medikamente müssen über spezielle Distributionswege bezogen werden, sind oft sehr teuer und teils auch empfindlich, sodass bei der Handhabung Sorgfalt und Fachkenntnis nötig sind.
Eine kontinuierliche Begleitung des Therapieprozesses durch Apotheker:innen verbessert zudem mittel- und langfristig die Qualität der „Orphan Drugs“ und damit die Patientensicherheit und den Therapieerfolg. Denn Apotheker:innen melden beobachtete Nebenwirkungen und weitere Auffälligkeiten an die Hersteller und zuständigen Gesundheitsbehörden, damit die Medikamente sukzessive optimiert werden können. Bei „Orphan Drugs“ ist das besonders wichtig, da es aufgrund der geringen Anzahl an Betroffenen je Krankheit vor der Zulassung keine groß angelegten Studien mit vielen Teilnehmer:innen gibt und daher Erkenntnissen, die in der Praxis gesammelt werden, eine besondere Wichtigkeit zukommt. Falls ein Wirkstoff zur Behandlung einer bestimmten Seltenen Krankheit bekannt ist, es jedoch kein entsprechendes Fertigarzneimittel gibt, können manche Medikamente auch magistral durch (Krankenhaus-)Apotheker:innen hergestellt werden, um die Patientin, den Patienten zu versorgen.