Durch den Kriegsausbruch in der Ukraine haben EU-Länder wie Österreich auf dem Energiesektor erfahren, wie schmerzhaft Abhängigkeiten werden können, wenn sich die geopolitische Lage verändert. Doch während Gas und Öl mittelfristig durch andere Energiequellen ersetzt werden können, gibt es für viele wichtige Arzneimittel und Wirkstoffe kaum Alternativen. Und auch in diesem Bereich haben sich teils gravierende Abhängigkeiten von außereuropäischen Staaten gebildet. Das gilt besonders für Antibiotika. Nach aktuellen Schätzungen kommen inzwischen mehr als 90 Prozent dieser wichtigen Medikamente und ihrer Vorstufen aus China und Indien.
Antibiotika zählen zu den bedeutendsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Viele Erkrankungen wie Lungenentzündung, Hirnhautentzündung oder Blutvergiftung, die durch bakterielle Infektionen ausgelöst werden und früher oftmals einen qualvollen Tod bedeutet hatten, wurden dadurch heilbar. Nachdem Penicillin, dessen Wirkung der britische Mediziner und spätere Nobelpreisträger Alexander Fleming 1928 entdeckt hatte, ab 1944 als Medikament verfügbar war, setzten die Antibiotika zu einem weltweiten Siegeszug an.
Heute gibt es eine breite Palette an Antibiotika-Gruppen, die je nach Art und Schwere der Infektion eingesetzt werden. Da sich Antibiotika bei falscher oder missbräuchlicher Einnahme auch negativ auf die Gesundheit auswirken können, sind diese Arzneimittel rezeptpflichtig und dürfen nur von Apotheker:innen mit entsprechender pharmazeutischer Beratung abgegeben werden. In Österreich wurden im Jahr 2019 nach Angaben der Sozialversicherung 4,9 Millionen Packungen Antibiotika zur systemischen Anwendung (z. B. Penicilline) verordnet. Hinzu kommen laut AGES 40,69 Tonnen Antibiotika für den Einsatz in der Veterinärmedizin.
Trotz der häufigen Anwendung hierzulande werden Antibiotika und ihre Vorprodukte kaum noch in Österreich und anderen EU-Staaten hergestellt. Denn für die großen Pharmaunternehmen ist die Antibiotika-Produktion im Vergleich zu anderen Medikamenten in westlichen Industrienationen zunehmend unrentabel geworden – besonders bei Generika (Nachahmerpräparate nach Ablauf des Patentschutzes des Originalpräparates). Der Großteil der Produktion wurde darum in den vergangenen Jahrzehnten nach Asien ausgelagert. Dort sind Investitions- und Lohnkosten in der Regel deutlich niedriger. Gleiches gilt für Umwelt- und Sicherheitsstandards.
Diese Verlagerung hat dazu geführt, dass manche Antibiotika bzw. Wirkstoffe nur noch an wenigen Standorten außerhalb von Europa hergestellt werden – und das überwiegend in autoritär regierten Ländern. Kommt es zu Zwischenfällen, werden die fragilen Lieferketten gestört und Versorgungsengpässe entstehen. So kam es beispielsweise 2017 nach einer Explosion in einer Produktionsstätte in Ostchina zu einer gefährlichen Knappheit an Piperacillin, einem Antibiotikum aus der Gruppe der Penicilline. Dieses besonders in der Krankenhauspharmazie wichtige Medikament wird zum allergrößten Teil nur noch in dieser Fabrik hergestellt. Ein weiterer wichtiger Wirkstoff, Cephalosporin, wird weltweit nur noch von drei Werken produziert – alle in China.
Insgesamt kommen rund 80 Prozent der Rohstoffe für Antibiotika aus China. Kommt es aus logistischen oder politischen Gründen für längere Zeit zu Lieferausfällen, steht auch die noch verbliebende Antibiotika-Produktion in Europa still. Selbst Apotheker:innen, die bei Versorgungsenpässen mit großer Mühe medikamentöse Therapiealternativen für Patient:innen suchen und versuchen, bestimmte Arzneimittel aus Nachbarländern zu importieren, sind dann machtlos.
Das Problem hat inzwischen auf höchster politischer Ebene Gehör gefunden. In der Ende 2020 angenommenen Arzneimittelstrategie für Europa gibt die Europäische Kommission das Ziel aus, die Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Nachhaltigkeit der europäischen Pharmaindustrie zu stärken, um hochwirksame Medikamente wieder verstärkt in Europa produzieren zu können. Jedoch ist dies kein Unterfangen, das sich von heute auf morgen realisieren werden lässt. Alleine der Aufbau von modernen Antibiotika-Produktionsstätten würde rund fünf bis zehn Jahre in Anspruch nehmen.